Mittwoch, 26. Mai 2010

Philadelphia - amerikanischer Nationalstolz in Betontristesse

Philadelphia ist zweitgrößte Stadt der amerikanischen Ostküste. Die Stadt, die einst die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten ausrief und wo die Gründungsväter die amerikanische Verfassung ausarbeiteten, macht auf den ersten Blick einen eher grauen und angerosteten Eindruck.
Auffallend ist das sehr antiquierte Nahverkehrsystem. Eisenbahnromantiker hätten ihr wahre Freude an den von Hand gelochten und nur im Zug zu erwerbenden Abreißtickets, den fehlenden digitalen Anzeigen, und der auffallend hohen Anzahl an Personal. Ineffizienz, wo man nur hinschaut. Anstelle von Ticketautomaten verkaufen einem Schaffner, von denen es pro Zwei-Wagen-Zug bis zu vier gibt, gegen Aufpreis Tickets im Zug. An den Bahnhöfen hängen nur wenig Übersichtspläne und aufgrund fehlender Hinweisschilder bin ich ein mal sogar in die falsche Richtung eingestiegen, da ich das Plastikschild vorn am zügig einfahrenden Zug nicht schnell genug entziffern konnte. Auch hygienisch war der Eindruck nicht besser. Damit ist das Philadelphia-Nahverkehrsnetz (SEPTA) das wahrscheinlich Antiquierteste in der westlichen Welt. Wer drauf verzichten kann, sollte das auch tun!
Ein zweiter Eindruck ist die auffallend hohe Anzahl der schwarzen Bevölkerung in dieser Stadt. Der Gegensatz zu Texas und auch Washington ist gravierend. Leider sind es auch diejenigen, die zuhauf obdachlos in den Straßen von Philadelphia liegen. Ich habe ehrlich gesagt noch nie so viele arme, bettelnde Leute in einer westlichen Stadt gesehen. Diese beiden Beobachtungen spiegeln sich auch in den Zahlen wider. Von den ca. 1,5 Millionen Einwohnern sind 43% Afro-Amerikanisch. 23% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Philadelphia hat leider auch eines der höchsten Kriminalitätsraten des Landes. Von den zehn größten Städten der USA hat Philadelphia die höchste Mordrate mit 23,0 pro 100.000 Einwohnern (2008, im Vergleich:  Berlin liegt bei 3,8 Morden pro 100.000 Einwohner). Faireshalber muss ich jedoch dazu sagen, dass die Zahl von Washington, D.C. mit 31,4 (2008) deutlich darüber liegt, obwohl ich mich persönlich dort sicherer gefühlt habe.
Philadelphia ist aber dennoch eine Reise wert, vor allem für diejenigen, die einen Einblick von den Ursprüngen der amerikanischen Gesellschaft erhalten wollen. Zwischen 5th und 6th Street in Center City, in einem touristisch sehr erschlossenen Gebiet, befinden sich eine Reihe von Gebäuden, in denen der interessierte Tourist Monumente, wie die Liberty Bell, das Constitution Museum und die Independence Hall besichtigen kann. Die Liberty Bell ("Freiheitsglocke") ist eine Art nationales Symbol, welches trotz dessen, dass die Glocke bereits einen gravierenden Sprung hat, immer wieder in bewegenden Zeiten, z. B. 2. Weltkrieg oder Vietnamkrieg, als Symbol der nationalen Einheit zu Rate gezogen wird. Sie wurde auch von Freiheitsbewegungen für die Abschaffung der Sklavenhaltung, zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts oder von Martin Luther King genutzt. Das Constitution Museum ist ein tolles Beispiel für den Stolz der amerikanischen Nation auf ihre ursprünglichen Werte und Ideen, wie Freiheit und Gewaltenteilung, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts fest in der amerikanischen Verfassung verankert sind. Es ist auf jeden Fall ein Besuch wert, um die Geschichte, auch Weltgeschichte, mal durch die Augen der Amerikaner zu sehen.
Die Liberty Bell in Philadelphia
Die amerikanische Flagge im National Constitution Museum
Downtown Philadelphia an einem regnerischen Tag
Des weiteren ist in Philadelphia eine der Ivy League Universitäten, die University of Pennsylvania (oder kurz UPenn), zu Hause. Zusammen mit einer derzeitigen Studentin hatte ich das Vorrecht, mir den Campus anzuschauen und konnte somit einen kleinen Einblick in die 1740 gegründete Uni erhalten.
Zu guter letzt möchte ich noch einen Teil von Philly, wie Philadelphia auch umgangssprachlich heißt, vorstellen, der mir einige Sympathie wieder zurückerobert hat: South Philly. Der Stadtteil ist unweit der Skyline und hat einen sehr alternativen Charakter. An allen Ecken gibt es Yogakurse, exotische Restaurants, Utensilien für den neuen Großstadttrend "Gemüsegarten auf dem Dach" und Biosupermärkte. Dort habe ich mit einem Cheesesteak und einer Innenhofparty bei einer Kommilitonin meinen Aufenthalt ausklingen lassen. Nun geht es nach New York und darauf freue ich schon ganz besonders!
Gemütliches Altstadtflair im Süden von Downtown

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